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von
Tristan Jann Ferdinand Abromeit
geboren am 21. Januar 1934
in
Barßel i. O.

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(8 Seiten, 131 KB)

Was soll man von sich berichten?
Bei Angaben zur eigenen Person läuft man Gefahr, nichtssagend zu bleiben oder sich in eitlen Ausschweifungen zu verlieren. Jene persönlichen Fakten und Daten auszuwählen, die der Leserin, dem Leser eine Hilfe zum Textverständnis sind, scheint mir gar nicht leicht zu sein. Bevor ich mich an einen Versuch heranmache, will ich die Einleitung von Joachim Fernau(2) aus seinem Buch "Sprechen wir über Preußen", 1981, wiedergeben, weil er das Gemeinsame der Biographien der Deutschen - und darüber hinaus - anspricht.

Sprechen wir über Preußen
Das hat Zeit, das läuft uns nicht weg. Sprechen wir zunächst von etwas anderem. Ich habe mir nie Illusionen über das Gehirn der Menschheit gemacht. Ich weiß, daß man durchaus zum Mond fliegen kann, ohne zu wissen, wer Hölderlin ist, und ich weiß, daß der Mensch die Computer-Erfindung zu machen imstande war, ohne seiner geradezu furchterregenden Blindheit und Ratlosigkeit Herr zu werden. Mit einem Wort: Ich weiß, daß der Einzelne bewundernswert sein kann und das Menschengeschlecht ein Brechmittel ist. Wir werden einzeln und als einzige geboren, und wir sterben einzeln und als einzige. Nun ist aber nicht zu leugnen, daß sich die Menschen zu einer gigantischen Herde ausgewachsen haben; sie krabbelt vor unserer Tür, sie wimmelt in den Städten, sie überzieht das Land, sie krabbelt über der ganzen Erde. Es ist etwas entstanden, was niemand abschütteln kann, ohne gestraft zu werden: die Ketten der Gemeinschaft. Was will die Gemeinschaft Fundamentales? Ich weiß es nicht. Wenn Sie das heutige Gequatsche beiseite lassen, nichts. Jedenfalls kann ich nichts Fundamentales entdecken. Ich sehe die Menschen weiter essen, trinken, arbeiten, schlafen, als Einzelne. So ist es doch!
Essen, trinken, kleiden, lieben, schlafen, sterben. Das ist das Fundamentale. Das ist Existenz, das ist die Lebensbasis. Oder? Das gibt die Erde her für den Einzelnen. Kommt etwas anderes heraus, wenn man es mit hunderttausend oder einer Million oder einer Milliarde multipliziert? Das Fürchterliche ist: Ja, es kommt etwas anderes heraus. Heraus kommen neue Eigenschaften, irreale Ziele, Rasseninstinkte, Nationalcharakter/ Volksseele, Generationenkampf, Klassenbewußtsein. Das waren nicht Eigenschaften des Einzelnen, das sind Eigenschaften, die der Multiplikator gebiert; das sind Sachen, nach denen die Gemeinschaft stinkt. In diesen
Gestank ist der Einzelne eingebettet. Er ist die Ursache, aber er kann nichts dafür, er hat es einst nicht gewollt.
Zerbricht er die Ketten, wird er ein Lemure oder ein Anarch. Ein Ausgestoßener. Was will ich sagen? Ich will sagen: Begreife dich aus den Anfängen der Gemeinschaft deiner Vorfahren. Im Beginn der Gemeinschaft liegt der Schlüssel. Im Beginn der Gemeinschaft liegt die Entscheidung, ob das Molekül Sauerstoff oder Nitroglyzerin wird. Deine Vorfahren waren nicht Deutsche, sie waren Bayern oder Schwaben oder Friesen
oder Obotriten. Waren sie gut oder schlecht, sie waren es an den Ketten der Gemeinschaft. Ein guter Friese war anders gut als ein guter Alemanne; ein tapferer Bayer war anders tapfer als ein tapferer Westfale. Die Ehre eines Hessen war nicht dieselbe wie die Ehre eines Kaschuben. Meine Vorfahren waren Preußen.

(1) Nach hier im April 2004 übernom. aus dem Teil III von "Verlogenes, Böses, Verschüttetes ..." v. Aug. 2002
(2) Mir war der Autor bisher unbekannt, obwohl dieser Schriftsteller und Autor eine beachtliche Liste an Veröffentlichungen vorlegen kann. Ich weiß nicht ob man ihn gelesen haben muß oder ihn geflissentlich nicht nennt. Ich frage bei den Büchern, die ich in die Hand nehme nicht, ob die Autoren "links" oder "rechts" stehen oder ob sie es fertig bringen "unverdächtig" zu sein.

Ich, T. J. F. Abromeit, bin ein geborener Europäer.
Bevor ich den Text von Fernau gelesen habe, war mir schon durch den Kopf gegangen, daß ich eigentlich der geborene Europäer bin. Mütterlicherseits bin ich ostfriesischer und westfriesischer (niederländischer Abstammung). Wobei der Geburtsname meiner Mutter "Ley" (3) über Ostfriesland hinaus auf das Rheinland und die Schweiz verweist. Und väterlicherseits bin ich - mein Name sagt es - ostpreußisch-litauischer Abstammung. Und wenn ich den Geburtsnamen meiner Großmutter väterlicherseits "Barczat" ansehe, dann ist da noch ein osteuropäisches Land vertreten. Da Abromeit soviel heißt wie Abrahams Sohn und Abraham auch ein jüdischer Familienname ist, kann ich mir zumindest einbilden, ich sei auch jüdischer Abstammung. Das vermittelt mir ein positives Gefühl, weil es die genetische Vielfalt, die ich verkörpere noch vergrößern würde.

(3) Als Junge wurde ich deshalb als Nazi beschimpft, weil vermutet wurde, daß die Nationalsozialistische Größe, Robert Ley (Deutsche Arbeitsfront und Kraft durch Freude) zur Verwandtschaft gehöre. Das ist nicht der Fall. Aber auch wenn: Was kann der Einzelne für seine Verwandten?

Ich bin ein stolzer Deutscher
Ich fühle trotz meiner Geburt als Europäer eindeutig als Deutscher. Die Frage, ob man stolz darauf sein kann, ein Deutscher zu sein, kann zu keinem guten Ergebnis führen, wenn sie im Rahmen des politischen Links-rechts-Schemas gestellt wird. Der Stolz, der hier gemeint ist, ist ja auch nicht wie die Dummheit aus einem Holz. Vielmehr kommt hier großgruppenbezogen zum Ausdruck, was personenbezogen in dem biblischen Gebot "Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!" gesagt wird. Wer sich selbst nicht akzeptieren, lieben kann, kann auch den nächsten nicht lieben. Wer damit unüberwindliche Schwierigkeiten hat, ein Deutscher zu sein, der kann auch (ohne Überhöhung) die Franzosen oder Dänen, die Belgier oder die Norweger, die Brasilianer oder die Russen usw. nicht lieben.

"Deutscher"ist kein genetischer Begriff
Wobei jedem, der seine Familiengeschichte versucht, zurück zu verfolgen, klar werden muß, das "deutsch" und "Deutscher" keine genetischen Begriffe sind, sondern kulturelle, gesellschaftliche. Wir können daraus schließen, daß auch ein heutiger Türke oder ein Schwarzafrikaner ein Deutscher werden kann, wenn er in den Schmelztiegel Deutschland einsteigt, wie vor ihm Fremde in vielen Generationen. Wem aber noch bewußt ist, wie schwierig es nach dem Krieg war, Deutsche aus den Ostgebieten in den westlichen deutschen Landen einzugliedern und wer bedenkt, wie lange ein Deutscher - wenn er innerhalb Deutschlands umzieht - ein Zugereister bleibt, der wird den Zuzug von Nichtdeutschen nach Deutschland eher bremsend als fördernd gegenüberstehen. Und bei der Rasanz der politischen Entwicklung, muß man auch fragen, ob Deutschland nicht schon aufgehört hat zu existieren, bevor es vom Türken oder Afrikaner integrierend erreicht wurde.

Ich bin eindeutig ein Niedersachse und kein Bayer.
Ohne die Bayern und ohne das Bayern wäre Deutschland arm dran. Als Föderalist müßte ich aber akzeptieren, wenn sie sich von Deutschland trennen würden und sich z.B. mit den Österreichern vereinigen würden. Was im europäischen Rahmen keine Schwierigkeiten bereiten sollte. Aber emotional fühle ich mich in Dänemark mehr zu Hause als in Bayern. Ich fühle mich heute als Niedersachse, bin aber noch im Land Oldenburg - das als solches nicht mehr existiert geboren und habe mich als Junge auch als Oldenburger gefühlt. Auf den Status des Oldenburgers wurden ich quasi mit der Formel eingeschworen: "Ich bin ein Oldenburger Junge, esse Kohl mit Speck und trocken' Brot!" oder so ähnlich. Vermutlich haben wir in der Schule auch auf der Landkarte gezeigt bekommen, wo die Grenzen Oldenburgs liegen. Aber das war für uns etwas Abstraktes, da wir quasi ja nicht weit über das Dorf hinaus kamen. Es war Krieg und Schulausflüge gab es nicht.

Als Oldenburger war ich ein Barßeler mit Minuszeichen
Wenn man sich auf die Geschichte eines Ortes einläßt und die eigene erlebte Geschichte nicht verdrängt, dann findet man im kleinen gespiegelt das, was sich in der großen Welt abspielt. Barßel, mein Geburts- und bis zum 16. Lebensjahr mein Lebensort ist für solche Betrachtungen besonders gut geeignet, weil es ein Grenzort zu dem Ammerland, dem Ostfriesland, zum Saterland war und sich als altes Dorf auf der Geest deutlich von den noch jungen Fehnsiedlungen unterschied. Man kann in der Geschichte dieses Dorfes betrachten: Die Verlagerung der obrigkeitlichen Zugehörigkeit von Münster nach Oldenburg. Prägung durch die Konfession und die Abgrenzung zwischen den Konfessionen. Grenzschwierigkeiten und kulturelle Abgrenzungen. Der Broterwerb auf dem sandigen Boden und im Moor und der Fremde (in der Schiffahrt und fernen Städten). Der rasante Wandel der Verkehrswege vom Schiff über die Eisenbahn zum Auto. Natürlich auch Krieg mit Gefallenen, Ausgebombten, Vertriebenen und Flüchtlingen. (Wie durch ein Wunder kamen nach dem Krieg noch Sendungen mit Hausrat meiner memelländischen Verwandten mit der Bahn an, die im Krieg in Ostpreußen aufgegeben worden waren.) Natürlich war auch die Umschichtung der sozialen Rangordnung im Dorf durch die NSDAP zu beobachten. Überrascht war ich vor einiger Zeit, als ich in der Dissertation "Tee in Ostfriesland", 1991, von Karl Wassenberg las, das mit dem Tee als der milderen Droge die härtere Droge Alkohol bekämpft wurde. Der Tee, die ostfriesische Mischung ist also das Produkt einer Antidrogenpolitik. Aber warum war ich nun ein Barßeler mit einem Minuszeichen? Ich bin zwar in Barßel geboren, mein Vater war aber ein Zugereister und dann noch so weit aus dem Osten - aber ohne ostpreußischen Akzent -, meine Mutter war eine Kolonistentochter aus Elisabethfehn (bzw. Bollinger Moor) - mit dem Plattdeutsch als Muttersprache - und beide (also auch ich) hatten die falsche Konfession. Das Ergebnis war: Ich bin Jahrzehnte mit dem Gefühl herum gelaufen, man hätte mir in meinem Geburtsort das Heimatrecht verwehrt. Dabei sind die Bewohner von Barßel genauso liebenswerte Menschen wie anderen Orts. Und trotzdem waren diese Gefühle nicht ein Zeichen von Entwicklungsstörungen eines jungen Menschen.

Das Besondere
Ich bin als zweites von vier Kindern meiner Eltern im Januar 1934 geboren. Ich wußte, daß ich als übergewichtige Leibesfrucht (über 12 Pfund) für meine Mutter eine schwere Geburt war, die eine Schwangerschaftspsychose zur Folge hatte und von der sie sich nur langsam erholte. Ich wußte auch, daß einer der Brüder meiner Mutter mit seiner Familie sein Haus geräumt hatte, damit sich meine Mutter dort erholen konnte. Die Familie des Onkels bestand immerhin aus vier Personen und meine Tante war mit dem dritten von ihren vier Kindern schwanger. Mich hatte man in einen Wäschekorb gepackt und zu Verwandten nach Delmenhorst gebracht, wo man in der Nachbarschaft eine Amme für mich fand. Daß ich in der Zeit von Mutters Krankheit versorgt werden mußte, war mir immer einsichtig, die Maßnahme, meine Mutter vor der Öffentlichkeit zu verstecken, aber nicht. Neulich sagte mir nun eine um 10 Jahre ältere Kusine(4), die Familie mußte doch Deine Mutter und Dich vor den Nazis in Sicherheit bringen. Ich wollte nun überprüfen, wann dann die Euthanasiegesetze im Nazi-Deutschland beschlossen worden sind. Ich habe es mit vertretbaren Aufwand und den Quellen, die ich hier zu Hause habe, nicht herausgefunden. Und das Verrückte an der ganzen Sache ist, daß der Onkel, in dessen Familie ich Aufnahme gefunden hatte, nach jahrelanger Arbeitslosigkeit eine Anstellung bei der Geheimen Staatspolizei gefunden hatte. Mir scheint: Von diesen Widersprüchen ist die ganze Nazi-Zeit geprägt. Als Mitglied der Deutschen Jugend (Zur Hitlerjugend wechselte man mit 14 Jahren.) habe ich dann mit Spielkameraden - rücklings auf der Weide liegend - versucht die feindlichen Bomber zu zählen, die Bremen und Hamburg anflogen. Wir stellten fest, daß die deutsche Abwehrflack und die deutschen Abfangjäger immer weniger zum Einsatz kamen und hofften, daß die Wunderwaffe des Führers - von der wir Knaben auch schon gehört hatten - bald eine Wende herbeiführen würde.

(4) Diese Kusine hat im Krieg als Krankenschwester von Bomben geschundene Kinderleiber gepflegt und nach dem Krieg Überlebende aus Konzentrationslagern und sie ist dadurch für den langen Rest ihres Lebens selber leidend geworden. Die Gesundheit ihres verstorbenen Mannes wurde im KZ ruiniert. Ihr Sohn holte sich eine tödliche Krankheit beim Arbeitseinsatz in Afrika.

Der gewöhnliche Lebenslauf
O ja, als Kleinkind war ich sogar einmal im Memelland, der Heimat meines Vaters. Das Haus der Großmutter steht noch, ich habe mich vor einigen Jahren mit meiner jetzigen Familie davon überzeugt. Das Gewöhnliche für die Jahrgänge, die in den Beginn der Hitlerzeit hineingeboren wurden, war, daß die Schule und der Alltag vom Kriegsverlauf bestimmt wurde. Dabei hatte ich das Glück, zu jenen zu gehören, die den Krieg sozusagen in einer milden Ausgabe erlebten. Natürlich gab es Gefallene in der Familie, der Vater kam lädiert vorzeitig vom Militär zurück, es gab Bomben, gesprengte Brücken und ein abgestürztes Flugzeug im Dorf und
von der Mutter Schimpfe dafür, daß ich statt der alten Garde vom Volkssturm die Feld-Scheunen nach abgesprungenen Besatzungsmitgliedern des Flugzeuges durchsucht habe. Ich kann mich aber auch an eine Situation erinnern, in der ich vor Angst in die Hosen gemacht habe. Bei einem anderen Luftangriff war ein Mann zu uns ins Haus geflüchtet. Der Inhalt seines Stoßgebetes war: "Lieber Gott, warum den gerade wir? Ich habe damals empfunden:

"Wenn überhaupt. Warum nicht wir?" Die Hausaufgaben bestanden vorwiegend aus Blätter- und Kräutersammeln und Ernteeinsätzen. Natürlich gab es kein Fernsehen - Kino vielleicht einmal im Jahr. Langeweile hatten wir - auch ohne Spielzeug - selten. Die beste Zeit war wohl, als die Schule ausfiel, weil das Gebäude durch Bomben zerstört wurde. Als wir im letzten Schuljahr den ganzen Vormittag zur Schule kommen sollten, waren viele von uns empört, weil das doch unsere selbstbestimmte Zeit verringerte. Die Eltern hatten für die Erziehung ihrer Kinder doch keine Zeit, weil sie mit dem Kampf ums täglich Überleben beschäftigt waren. Wir kämpften unsere eigenen Kämpfe und waren dabei nicht zimperlich. Aber dies ist eigentlich das Gewöhnliche an den Lebensläufen der Jahrgänge Anfang der 30er Jahre. Auch daß sich diese Jahrgänge in Bezug auf Bildung und Ausbildung nach den reduzierten Möglichkeiten richten mußten und in den meisten Fällen das Dorf, die Gemeinde verlassen oder lange Fahrzeiten in Kauf nehmen mußten, ist ganz gewöhnlich in ihren Lebensläufen.

Ist mein Lebenslauf ungewöhnlich?
Nüchtern betrachtet ist mein eigener Lebenslauf auch nicht ungewöhnlich, ungewöhnlich vielleicht die Motivation für einzelnen Tätigkeiten: Sehnsucht, Wißbegierde, Abenteuerlust, Widerwillen und Hilfsbereitschaft und die Notwendigkeit von irgend etwas zu leben. Aber beim Nachsinnen über die Zeit, bevor das berufliche Karussell sich anfing zu drehen, ist mir hochgekommen, daß meine Eltern, die ständig von offenen Rechnungen aus dem Friseur- und Fotogeschäft geplagt waren, von uns Kindern ganz selbstverständlich erwarten haben, daß wir unsere Arbeitseinsätze zu Hause und außer Hause leisteten, ohne nach einem Lohn zu fragen. Begonnen hat alles noch vor der Währungsreform, als ich einen Konfirmationsanzug aus einer aufgetrennten Uniform erhielt und mein Vater mich als Fotografenlehrling in seinem Atelier anmeldete. Ich wollte aber Seemann werden, nicht nur durch die Vorprägung seitens der Familie meiner Mutter und der Tradition des Seemannsdorfes Barßel (es hat einen kleinstädtischen Charakter) sondern durch eine unbändige Sehnsucht - die ich nicht einmal als Fernweh bezeichnen kann. Diese Sehnsucht überfiel mich regelmäßig im Herbst und Frühjahr, wenn die damals noch nicht eingedeichten Wiesen vom Wasser überschwemmt waren und der Sturm die Wellen hochpeitschte. Mein Vater hatte mit dem Hinweis, daß die Kapitäne in der damaligen Zeit froh waren, einen Milchwagen fahren zu dürfen und vielleicht auch weil er sich einen Nachfolger wünschte, meinen Berufswunsch abgelehnt. Nach zwei Jahren konnte ich mich aber durchsetzen und auf dem Küstenschiff "Heinrich" als Schiffsjunge in Bremen anheuern. Der Kapitän und Eigener war aus Barßel. Ich hatte ihn aber noch nie vorher gesehen. Die erste Fahrt ging nach Göteborg. In Bremerhaven, wo wir besseres Wetter abgewartet hatten, konnte man noch quer durch die Stadt aus aufgeräumten Ruinen sehen. In Göteborg einlaufend, dachte ich, ich käme ins Paradies. Die Sprünge vom Jungen, Jungmann, Leichtmatrose zum Matrosen folgten rasch aufeinander. Ich war nach der Fremdbeurteilung wohl tüchtig. Es trat aber etwas Merkwürdiges ein. Es ist wohl der Themenkomplex, den Wilhelm Reich in seinem "Christusmord" abhandelt, den ich erst in diesen Tagen gelesen habe. Die unbestimmte Sehnsucht hatte sich in eine Sehnsucht nach einer Beziehung zu einem weiblichen Wesen gewandelt. Das Gefühl verlangte aber nach einer Blume mit Wurzeln. Der Beruf ermöglichte aber nur Schnittblumen, die ich innerlich nicht akzeptieren wollte. Und dieser Widerspruch und drei konkurrierenden Seelen in meiner Brust, die des Mönches, des Bauern und des Abenteurers haben dann das Berufsfindungskarrussel in Schwung gebracht und gehalten. Nun was ist ein Seemann schon an Land und dann nur mit dem Volksschulabschluß?
Eines Tages entdeckte ich an einem Arbeitsamt einen Aushang, daß im Bergbau Leute gesucht wurden. Ich weiß nicht mehr genau, ob es der Gegensatz des Arbeitsortes war, der mich damals gereizt hat. Ich habe jedenfalls unter Tage gearbeitet, und die Zeit gehört ebenfalls zu meinem Erfahrungsschatz. Irgendwann brauchte ein Onkel auf seinem Binnenschiff dringend einen zweiten Mann. Ich bin eingesprungen. Ein anderes Mal habe ich in der Plattenschmiede einer Werft gearbeitet; von zu Hause kam der Notruf: "Du mußt nach Hause kommen, Vater ist krank!" Also bin ich zu Haus mehr schlecht als recht im Fotogeschäft eingestiegen.
In einem Seemannsheim über die geschlossenen Bildungstüren nachdenkend, bekam ich den Tip, doch einmal nach Freistatt - einer Zweiganstalt von Bethel - zu fahren. Ich habe die Anregung aufgenommen und habe dort eine erfahrungsreiche Zeit gehabt. Irgendwann wurde mir vom Internationalen Freundschaftsheim erzählt. Dieses Heim verstand sich als Ausbildungsstätte für Friedensarbeiter. Als ich nach längerem Nachdenken ohne Literatur und ohne Diskussion zu dem Schluß gekommen war, daß das Militär niemals seinen Auftrag erfüllen kann, bin ich nach Bückeburg gefahren. Zu jener Zeit, als ich die Zusage für den Winterlehrgang 58/59 der Bäuerlichen Volkshochschule erhielt, habe ich am Fließband in einer Fernsehfabrik gearbeitet. Ich dachte mir, daß es nützlich für den Besuch dieser Heimvolkshochschule wäre, wenn ich über meine Erfahrungen als Landkind hinaus mir Kenntnisse in der Landwirtschaft aneignen würde. Also habe ich mich auf einen großen Bauernhof beworben und dort bis zum Kursbeginn gearbeitet. (Dabei fällt mir der Judenfriedhof ein, der gleich neben dem Hof liegt.)
Die Geschichte ist so und auch anders weitergegangen. Ich kann somit sagen, ich habe reichhaltige
Arbeitserfahrungen im Handwerk, der Industrie, im Bergbau und der Landwirtschaft, in der Binnen- und Seeschiffahrt, im Handel, im Versicherungsaußendienst und im Sozialsektor. An Qualifikationsurkunden habe ich dabei erworben, den Matrosenbrief, den Gehilfenbrief als Bankkaufmann, die Graduierungsurkunde zum Volkswirt und sehr spät noch den Gesellenbrief als Bootsbauer. Ich kenne die Rolle des Arbeitslosen, des Aussteigers, des Hausmannes, des Parteigründers und des Alternativlers. Ich weiß, was es für ein Gefühl ist, wenn man in den leeren Kühlschrank guckt, wenn die Geldbörse keinen Nachschub erlaubt. Ich habe das bedrückende Gefühl erlebt, das eine Abtreibung verursacht und andere Dinge, die einem bedrücken oder beglücken. Ich würde meine Eltern - wenn das möglich wäre - um Verzeihung bitten für die ungerechten Worte, die ich ihnen als rebellierender Jugendlicher an den Kopf geworfen habe.

Ich bin reich und arm
Auf meiner Lebensbahn bin ich reich an Erfahrungen geworden, aber ein armer Schlucker geblieben. Ich habe aber das Glück gehabt, daß mich tüchtige Frauen als Ehemann auserkoren haben. Aus der ersten Ehe habe ich vier Kinder, die mir schon acht Enkel beschert haben. Und in zweiter Ehe habe ich drei Kinder. Das älteste Kind, ein Sohn, beginnt mit dem Studium, das jüngste, eine Tochter ist mit 11 Jahren nur wenig älter als ihre Nichten. Und das mittlere Kind ist ein weiterer Sohn, mit dem ich auf Kriegsfuß lebe um die angemessenen Schlafenszeiten und das Durcheinander in seinem Zimmer. Ich vermute, mit ihm werden wir noch viel Überraschungen erleben, so wie meine Eltern mit mir. Und nicht zu vergessen: Zwischen oder begleitend zu meinen einzelnen Lebensstufen stehen Menschen als verbindende Elemente.

Zu guter letzt
Als junger Mensch, als ich mir meines eigenen Denkens bewußt wurde, habe ich mich gefragt, wann man der Wahrheit wohl am nächsten kommen würde: In jungen Jahren, noch ziemlich unbelastet von Erfahrungen und Wissen oder in alten Tagen, wenn einen die Erfahrungen und die Last des Wissens schon gekrümmt haben. Ich bin nun 68 Jahre alt und habe die Antwort immer noch nicht gefunden.

Tristan Abromeit

 

© 2004 Tristan Abromeit, Gorch-Fock-Weg, Neustadt